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Die Vielzahl an Theorien zur Erklärung der Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen spricht dafür, dass die generellen Ursachen von Suchtkrankheiten noch nicht eindeutig geklärt sind. Wahrscheinlich spielen auch für die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle: Jeder Mensch kann im Prinzip süchtig werden, allerdings bestehen erhebliche individuelle Unterschiede im Ausmaß des konkreten Risikos zur Abhängigkeitsbildung. Ob sich eine Abhängigkeitserkrankung entwickelt, hängt vom Zusammenwirken verschiedener Entstehungsbedingungen ab, die man vereinfacht in einem Dreiecksschema darstellen kann. Das heißt, dass es im Wesentlichen drei Bereiche gibt, die zusammenspielen müssen, damit es zur Entwicklung einer Abhängigkeit kommt. Begünstigende Bedingungen auf der persönlichen Ebene sind dabei unter anderem Defizite in den Bereichen der Genuss- und Erlebnisfähigkeit, eine verminderte Problemlösungskompetenz sowie verminderte Kommunikations- und Konfliktfähigkeit. Aber auch ein geringes Selbstwertgefühl mit verstärkter sozialer Angstbereitschaft bzw. Tendenz zu dysphorisch/depressiver Reaktionslage sowie ein problematischer Umgang mit Gefühlen allgemein bzw. eine verminderte Beziehungs- und Liebesfähigkeit sind ebenfalls begünstigende individuelle Bedingungen. Beim Suchtmittel Alkohol selbst spielen sein spezielles Abhängigkeitspotential, die hohe Verfügbarkeit, seine schlechte Dosierbarkeit, aber insbesondere auch seine psychopharmakologischen Funktionen, z.B. seine scheinbare Effizienz gegen Angst und depressive Verstimmung, eine Rolle. Dabei scheint für die erhöhte individuelle Suchtbereitschaft die jeweils gegebene Interferenz zwischen dem Suchtmittel, z.B. Alkohol, und seiner speziellen Wirkung auf das Belohnungssystem verantwortlich zu sein. Aspekte des sozialen Umfeldes sind neben der teilweise extremen Konsumorientierung sicherlich eine negativ erlebte Leistungs- und Konkurrenzsituation, der Mangel an Zukunftsperspektiven sowie eine unsichere Wertorientierung. Auch hier scheint die Wirkung des Alkohols auf soziale Ängste und Hemmungen eine Schlüsselfunktion einzunehmen. Nach neueren Erkenntnissen der neurobiologischen Funktionshintergründe hängt die suchtfördernde Potenz des Alkohols beim einzelnen Konsumenten ganz wesentlich von ihrer spezifischen Wirkung auf das individuelle Belohnungssystem ab, das auf Suchtmittelkonsum mit einem deutlichen Belohnungseffekt durch Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin einschließlich zusätzlicher Interaktionen mit dem endogenen Opioidsystem im mesolimbischen System reagiert. Eventuell spielt für die individuelle Suchtgefährdung neben den oben erwähnten Faktoren auch eine möglicherweise genetisch bedingte Funktionsbeeinträchtigung des Belohnungssystems eine entscheidende Rolle. Nach einer langen Periode der undifferenzierten Betrachtungsweise der Alkoholabhängigkeit als einheitliches Krankheitsbild hat sich mit zunehmend therapeutischem Interesse gezeigt, dass unter diesem Begriff eine Unzahl verschiedener Erscheinungsbilder und Entwicklungsvarianten existiert; das Verdienst von Jellinek ist es, durch systematische Befragungen und Untersuchungen eine erste Differenzierung von Prägnanztypen und charakteristischen Entwicklungsphasen von Alkoholabhängigkeiten erarbeitet zu haben: 1. Präalkoholische Phase (Dauer: einige Monate bis 2 Jahre): belohnender Effekt des Alkohols wird als angenehm empfunden, zwangloser Alkoholkonsum bzw. sog. Entlastungstrinken geht in Missbrauch über. 2. Prodromalphase (Dauer: 6 Monate bis 5 Jahre): Alkoholische Palimpseste (Räusche mit Erinnerungslücken), heimliches Trinken, dauerndes Denken an Alkohol (ob genügend da ist, vorsorglich trinken), gieriges Trinken der ersten Gläser, Schuldgefühle. 3. Kritische Phase (keine Angaben über Dauer): Kontrollverlust, Alkoholikeralibis (warum man trinken musste), Verhalten auf den Alkohol konzentrieren, Freunde und Arbeitsplatz fallenlassen, Änderung des Trinksystems (nicht vor gewissen Stunden), Perioden völliger Abstinenz mit anschließenden Niederlagen, Änderungen im Familienleben, erste Einweisung ins Krankenhaus, regelmäßiges morgendliches Trinken. 4. Chronische Phase (keine Angaben über Dauer): verlängerte, tagelange Rauschzustände, ethischer Abbau, Beeinträchtigung des Denkens, passagere alkoholische Psychosen, Trinken mit Personen weit unter seinem Niveau, Verlust der Alkoholtoleranz u.a. Es hat sich gezeigt, dass die unterschiedlichen Symptome nicht unbedingt nacheinander, sondern auch gleichzeitig auftreten können. Alpha-Alkoholismus: Konflikttrinker Beta-Alkoholismus: Gelegenheits- bzw. Verführungstrinker Gamma-Alkoholismus: Süchtiger Trinker Delta-Alkoholismus: Gewohnheitstrinker Epsilon-Alkoholismus: Quartalstrinker Tritt durch lang anhaltenden, häufigen Konsum Abhängigkeit auf, so wird der Alpha-Typ zum Gamma-Typ bzw. der Beta-Typ zum Delta-Typ. Ca. 60% gehören dem Gamma-Typ, ca. 20% dem Delta-Typ, ca. 5% dem Epsilon-Typ an. Inzwischen gibt es eine erhebliche Anzahl weiterer unterschiedlicher Typologien bzw. noch weitergehende Möglichkeiten zur Ermittlung des individuellen Abhängigkeitsbildes im Einzelfall. Die erhebliche Toxizität des Alkohols in höherer Dosierung bedingt neben der Abhängigkeit eine erhebliche Zahl unterschiedlicher Organerkrankungen, die hier deshalb summarisch angeführt werden, da ihre Manifestation vielfach erst zur Diagnose einer Alkoholabhängigkeit beiträgt: Psychiatrische Alkoholfolgeerkrankungen
Neurologische Alkoholfolgeerkrankungen
Siehe auch: H. Scholz: Neurobiologische Veränderungen bei Alkoholabhängigkeit. In: Aktuelle Therapie in der Neurologie. Hrsg.: Stefan-Mamoli, Ecomed, 2002. Vorwiegend internistische Alkoholfolgeerkrankungen
Darüber hinaus werden zahlreiche andere alkoholbedingte Organstörungen in allen medizinischen Fachbereichen beschrieben, z.B. sexuelle Funktionsstörungen oder die über lange Zeit wenig beachtete Alkoholembryopathie: Symptome: intrauteriner und postnataler Minderwuchs mit Untergewicht, Mikrozephalus, statomotorische und geistige Retardierung, Hyperaktivität, Muskelhypotonie, typische Fazies mit gerundeter Stirn, verkürztem Nasenrücken, Epikanthus, Ptosis, verstärkten Nasolabialfalten, schmalem Lippenrot und Retrogenie. Andere alkoholbedingte Komplikationen: 20-30% aller Notaufnahmen im Krankenhaus stehen in Zusammenhang mit Alkohol: deutlich erhöhtes Unfallrisiko, speziell Stürze, Unfälle im Straßenverkehr, Verbrennungen, außerdem erhöht Alkoholkonsum das Risiko von Komplikationen und Todesfällen bei Operationen um das Zwei- bis Fünffache, z.B. durch Infektionen, Herzversagen und Nachblutungen. Möglichkeiten zur Erhärtung der Diagnose bei konkretem Verdacht auf Alkoholfaktoren durch:
Bei positivem Hinweis auf ein Alkoholproblem ergibt sich aufgrund der unterschiedlichen therapeutischen Konsequenzen die Notwendigkeit abzuklären, ob im konkreten Fall Alkoholmissbrauch oder bereits eine manifeste Alkoholabhängigkeit vorliegt. Nach der internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD 10) liegt ein schädlicher Gebrauch, somit „Alkoholmissbrauch“ vor, wenn das Konsumverhalten zu einer Gesundheitsschädigung führt. Diese kann als körperliche Störung auftreten, etwa in Form einer Gastritis, oder als psychische Störung, z.B. als depressive Episode durch massiven Alkoholkonsum. Eine Alkoholabhängigkeit liegt nach der internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD 10) dann vor, wenn drei oder mehr der nachfolgenden Kriterien erfüllt sind:
Zusätzliche Hinweise auf eine bereits manifeste Alkoholabhängigkeit können sein:
Therapeutisch wird im Gegensatz zu ausschließlichem Alkoholmissbrauch langzeitige Abstinenz als Grundlage einer Durchbrechung der manifesten Abhängigkeit erforderlich. Akuter Alkoholentzug: Durch den Wegfall der alkoholbedingten Dämpfung vieler zentralnervöser Funktionen entsteht eine kompensatorische zentralnervöse Hyperexzitabilität mit Tremor, psychomotorischer Unruhe, Tachykardie, Schwitzen, Übelkeit, Erbrechen, Ängstlichkeit, Dysphorie, Agitiertheit sowie bei Eskalation der Symptomatik auch Entzugsanfälle und die Entwicklung eines Alkoholdelirs. Protrahiert einsetzende krisenhafte Symptome einer Abhängigkeit: Durch die heute neurobiologisch bestätigte, lebenslang persistierende Umprogrammierung mesolimbischer Funktionssysteme (z.B. N. accumbens) werden in unregelmäßigen Abständen neuerlich Signale und Impulse zur Wiederaufnahme des manifesten Suchtmittelkonsums generiert. Charakteristische Kennzeichen sind erhöhtes Alkoholverlangen, vielfach in Verbindung mit Nervosität, dysphorischer Verstimmung, Reizbarkeit, Ängstlichkeit sowie fallweise auch komplexere vegetative Störungen. Wenn somit die Diagnostik sowohl das Existieren von Alkoholfaktoren als auch eine manifeste Alkoholabhängigkeit bestätigt hat, ergibt sich die Notwendigkeit der Gestaltung und Umsetzung eines an den einzelnen Patienten optimal angepassten Behandlungsplans. |